Poniemieckosc – das Postdeutsche

Von Roswitha Schieb

Gestern fand im Veranstaltungsraum der Frauenorganisation eFKa die Veranstaltung zum Thema „poniemieckość“ statt, also über das Phänomen des Postdeutschen in den polnischen Westgebieten. Der Raum an der ulica Krakowska war mit etwa zwanzig interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern aller Generationen gut gefüllt.

Zunächst erläuterte ich meinen Zugang zu dem Thema der Vertreibung: Ende der 1990er Jahre unternahm ich einige Reisen nach Schlesien, von wo meine Eltern als junge Erwachsene nach 1945 vertrieben worden waren. Die heutige polnische Bevölkerung im ehemaligen Dorf meiner Mutter in der Nähe von Neiße/Nysa setzt sich aus ebenfalls vertriebenen Ostpolen aus dem Lemberger Raum zusammen. Dieses doppelte Vertreibungsgeschehen inspirierte mich zu dem literarischen Reiseessay „Reise nach Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls“ (2000, Neuauflage 2014) – ein Buch, das, ausgehend von den persönlichen deutschen Prägungen, den Blick öffnet auf Polen und die Westukraine. Die Übersetzung dieses Buches ins Polnische durch Beata Kozak steht kurz vor dem Abschluss.

Sodann sprach ich über die zweite Generation in Polen, vor allem in Breslau. Breslau ist mir deswegen recht vertraut, weil ich einen „Literarischen Reiseführer Breslau“ (2004/2009) und den „Großen Kunstführer Breslau“ (2015) veröffentlichte. In Breslau, aber auch in Städten wie Stettin oder Gleiwitz, finden sich mittlerweile viele kreative Bezüge auf den Umgang mit der eigentlich fremden und lange tabuisierten deutschen Vergangenheit. Aber auch auf die eigenen verlorenen Ostgebiete, an die man sich in Polen bis 1989 in Heimlichkeit erinnerte, wird künstlerisch Bezug genommen, was erst nach der Wende möglich wurde. Der Essay „Zwei Städte“ des polnischen Schriftstellers, Lyrikers und Essayisten Adam Zagajewski erschien 1991 (in deutscher Übersetzung veröffentlicht in Sinn und Form, 1995). Dieser Schlüsseltext ist nicht nur aufgrund seiner Sprache faszinierend, sondern auch aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten, aber auch Verschiedenheiten der Gefühlslagen von Vertriebenen der ersten und zweiten Generation in Deutschland. Denn Zagajewski entwirft einmal ein Panoptikum älterer, aus Lemberg vertriebener Polen, die sich 1945 ungewollt im ehemals deutschen Gleiwitz wiederfanden und sich dem Neuanfang gegenüber verweigerten. Zum anderen beschreibt er seine eigenen Bemühungen als Kind, gegen Widerstände das ehemals deutsche Gleiwitz als neue Heimat zu erobern. Der Autor muss sich seine Kindheit in Gleiwitz gegen die in die Vergangenheit gebannten Vertriebenen mit beinahe schlechtem Gewissen erkämpfen: „Ich fand schlicht Gefallen an der Welt. Aber in den Augen der Älteren, gar der Ältesten, wurde ich fast zum Verräter. Es ziemte sich nämlich nicht, hier, in dieser zufälligen Stadt, die Welt schön zu finden.“

Adam Zagajewski, der unmittelbar nach dem Krieg Geborene, der von der Kriegs- und Vorkriegsgeneration entscheidend geprägt wird und trotzdem auf seiner eigenen Wahrnehmung, auf der Eroberung seiner eigenen Heimat beharrt, die ihm als nicht echt, als talmiartig ausgeredet werden sollte, schafft es, seine Position als Nachgeborener in ein sehr schönes Bild zu fassen: „Von ihrem [der ersten Generation] Standpunkt aus war die Tatsache, daß jemand einen Monat nach Kriegsende geboren wurde, geradezu ein Witz. So als käme man zehn Minuten nach Konzertende in die Philharmonie und fände nur noch einen vergessenen Schirm in der Garderobe.“

Ein weiteres Beispiel für einen Vertreter der zweiten Generation, der sich mit diesem Thema konstruktiv beschäftigt, ist der polnische Liedermacher Roman Kołakowski, Jahrgang 1957, in Breslau geboren, dessen Familie, wie viele neue Bewohner Breslaus, teilweise aus Lemberg stammte. In seinem Lied „Ansichtskarte aus Breslau“ von 1991 bezeichnet Kołakowski Breslau, obwohl es vor gar nicht langer Zeit eine deutsche Stadt war, ein wenig trotzig-nüchtern als seine Heimat. Seine schwärmerische Sehnsucht jedoch richtet sich auf das verlorene Lemberg, Lwòw, das er nur durch Erzählungen kennt. Mit seiner angenehm pelzigen Stimme besingt er Lemberg, das für ihn Ausland ist, als Stadt der Liebe und der Geheimnisse, des alten Kinos, der östlichen Sprachmelodie, des Łyczakówer Friedhofs (der großen Lemberger Nekropole) und des lustigen Lemberger Radiosenders. Breslau ist im Lied stärker mit Schmerzen, Zweifel, Unsicherheit, Rauheit, historischen Verwerfungen und anklagender Härte verknüpft, während die Passagen über Lemberg mit größter Weichheit der Stimme, mit schmelzender Sehnsucht nach einem idealen, verlorenen Kosmos gesungen werden. Dem Sänger gelingt es, die Sehnsucht seiner Eltern, die er zu seiner eigenen Sehnsucht gemacht hat, zum Ausdruck zu bringen. Er muss sie sich nicht verbieten, er schämt sich nicht dafür, vielmehr ist es ein Pathos, das er ausleben kann.

An dieser Stelle erschließen sich auch Unterschiede zwischen der zweiten Generation in Polen und in Deutschland: es ist schwer oder gar nicht vorstellbar, dass ein deutscher Liedermacher in einem Lied vom schlesischen Dialekt, dem lustigen Breslauer Radiosender „Runxendorf“ oder einem Breslauer Friedhof herumschwärmt.

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